Evangelischer Arbeitskreis Sachsen-Anhalt

Vom Ende der Hufeisentheorie


„Wie hältst du es mit der Demokratie?“  ist zu Recht heute eine der Gretchenfragen, die sich jeder, der aktiv politisch tätig ist oder der mittelbar über die Wahrnehmung seiner Stimmrechte politisch wirksam ist, stellen muss? Wahlergebnisse, besonders die zu Landtagswahlen in einigen neuen Bundesländern, haben diese Fragestellung noch einmal verschärft. Die CDU in Thüringen hat die Suche nach einer richtigen Antwort auf diese Frage geradezu zerrissen.

Die Mainstream-Antwort der CDU auf obige Frage lautet seit Jahren: “Keine Zusammenarbeit mit Parteien die extremistische Auffassungen vertreten oder Person mit solchen Auffassungen in ihren Reihen dulden oder gar fördern.“ Dabei ist es gleichgültig, ob links -oder rechtsextremistische Positionen vertreten werden. Sie sind gleichermaßen zu verachten und zu bekämpfen. Sie bilden, bildlich gesprochen, nur die zwei Enden eines Hufeisens. Die CDU als die „Partei der Mitte“, muss gleichen Abstand zu ihnen halten. Diese Forderung gilt es, auch im politischen Alltag, um jeden Preis (der Glaubwürdigkeit) umzusetzen.

Politik beginnt nach Kurt Schumacher mit der „Betrachtung der Wirklichkeit“.(1) Trifft die Hufeisentheorie noch mit hinreichender Genauigkeit unsere politische Wirklichkeit? Ist es weiterhin möglich, die wichtigsten politischen Richtungsentscheidungen und Entscheidungen in ein „Rechts- Links-Schema“ einzuordnen? Ich bin der Auffassung, dass dieses nicht mehr so einfach möglich ist, wie es noch vor Jahren möglich war oder möglich erschien. Unsere Welt ist innerhalb weniger Jahre wesentlich komplexer geworden, als sie es zur Zeit der „Erfindung“ der Hufeisentheorie war.

Einige Beispiele: Noch bis zum Ende des letzten Jahrhunderts gingen weite Teile der veröffentlichten politischen Meinung und auch vieler Bürger unseres Landes davon aus, dass religiös geprägte Anschauungen nur noch abnehmend die Gesellschaft prägen werden. Die derzeit schwindende Mitgliedschaft in den christlichen Kirchen Deutschlands wurde fälschlicherweise auf Europa, ja auf die Welt verallgemeinert. Kritische Stimmen zu dieser Einschätzung wurden weitgehend ignoriert. Nun kommt das „Religiöse“ in Gestalten und in einer Wirkmächtigkeit auf uns zu, die wir lange nicht erahnt haben. Diese Wirkmächtigkeit ist in kein „Rechts- Links-Schema“ einzuordnen. Es ist eine weitere Achse im zu betrachtenden Koordinatensystem.

Die Frage des „Nationalen“ und der „nationalen Identität“ wurde fälschlicherweise und oft auch in diffamierender Weise einem rechten Spektrum zugeordnet.  Dabei wurde übersehen oder ignoriert, wie wichtig es für die meisten Menschen ist, eine diesbezügliche Heimat haben zu können. Freilich können die Antworten des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts diese Frage nur glaubhaft beantworten, wenn sie im Lichte der derzeitigen demografischen Situation und der wahrscheinlichen Entwicklung derselben diskutiert und Lösungen entwickelt werden. In Deutschland haben derzeit ca. 25% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. (2) Dieser Anteil wird steigen. All diesen Menschen muss es möglich sein, ein adäquates Heimatgefühl entwickeln zu können. Der Begriff des „Verfassungspatriotismus“ erscheint mir derzeit der dafür Passendste zu sein. Wegen seiner „Sperrigkeit“ und Abstraktheit kann er aber noch nicht allein eine gute Lösung bieten.

Die Frage des „Nationalen“ ist nur sehr bedingt in einem „Rechts- Links-Schema“ verortbar. Man findet Nationalisten „rechts“ und „links“. Auch gibt es Religionen und christliche Konfessionen, die sich sehr national verstehen.

Für Christen ist die Stellung zum Volk Israel eine entscheidende Frage. Ich habe noch in der Christenlehre gelernt: „Die Juden haben Christus ans Kreuz geschlagen.“ Der christlich-jüdische Dialog hat in einer, inzwischen jahrzehntelangen, vorbildlichen Arbeit, neue Perspektiven eröffnet. Bemerkenswert war, wie die EKD in Vorbereitung des Lutherjubiläums 2017 schon Jahre vorher im Rahnen der Lutherdekade das Verhältnis Luthers zu den Juden und das Verhältnis der großen evangelischen Kirchen heute zu den Juden öffentlich bearbeitet und klargestellt hat. Auch diese Frage lässt sich in kein „Rechts- Links-Schema“ einordnen. Antisemitismus und Antijudaismus trifft man sowohl bei rechten als auch bei linken Gruppierungen. Darüber hinaus gibt sowohl einen christlichen als auch einen islamischen Antisemitismus.

Was können aber nun die, an einigen Beispielen aufgezeigten, Schwierigkeiten für den politische Alltag bedeuten, wie können und sollen sie Richtungsentscheidungen von CDU-Politik beeinflussen?
  Zu Recht hat der CDU-Landesausschuss Sachsen-Anhalt, aber weiterhin im „Rechts- Links-Schema“ verhaftet,  am 7.12.2019 beschlossen: „Die CDU spricht sich eindeutig für eine klare Abgrenzung gegenüber der AfD und der Partei Die Linke aus. Beide sind für uns weder Ansprechpartner noch Verbündeter. Eine Koalition wird es daher zur nächsten Landtagswahl mit der Linken und mit der derzeit in vielen Teilen radikalen AfD nicht geben.“
  Es hilft wohl nur eines: Eine konkrete politische Analyse und ein konkret unterscheidendes politisches Handeln. Zu grobe politische Schemata nutzen keinem und versperren eher die Suche nach politischen Lösungen.

Für den politischen Alltag kann das heißen: Sachanträge, die einfach vernünftig sind, müssen als solche behandelt und im Ergebnis der Meinungsbildung auch so abgestimmt werden. (Aus eigenen politischer Erfahrung füge ich hinzu, dass man sich manchmal nur selber ärgern kann, auf eine naheliegende, gute Idee nicht rechtzeitig gekommen zu sein.) Ein solcher politischer Meinungsbildungsprozess ist aber in unserer Demokratie ausdrücklich gewollt und entspricht genau einem, auch von mir geforderten, Verfassungspatriotismus.

Freilich bleibt die Aufgabe, diesen sperrigen Begriff anschaulich mit Leben zu füllen. Dazu wird gehören, die Geschichte Deutschlands als große Erzählung anschaulich zu schreiben und zu vermitteln. „Woher wir kommen, was wir wollen, wohin wir gehen“ sind drei große Fragen, die jede Generation neu für sich beantworten muss.

Jürgen Scharf
EAK-Landesvorsitzender

 

(1) Wohl Kurt Schumacher:  Dieser Satz wurde Kurt Schumacher anscheinend erstmals etwa 40 Jahre nach seinem Tod von dem CDU-Politiker Erwin Teufel zugeschrieben. Patrick Bahners hat in der F.A.Z. vom 7. Oktober 2019 darauf aufmerksam gemacht, dass bei diesem beliebten Politiker-Zitat noch niemand eine genaue Quelle in einer Rede oder in einem Text des 1952 verstorbenen SPD-Fraktionsvorsitzenden Kurt Schumacher nachweisen konnte. Quelle: http://falschzitate.blogspot.com/2019/10/politik-beginnt-mit-der-betrachtung-der.html

(2) 2018 lebten in Deutschland 20,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, was einem Bevölkerungsanteil von etwa 25,5 % entspricht.  Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Migrationshintergrund

Dieser Artikel ist im EAK-Rundbrief zu Pfingsten 2020 erschienen.